Der Schrei der Schweine – das klingt wie ein Bild aus der Hölle. Aber manchmal ist es ein Moment mit einem geliebten Tier, der diesen Schrei hörbar macht.
Im Leben mit unseren drei Schweinen gibt es solche Momente. Sie rütteln mich wach. Sie treffen mein Herz – und durch das Herz direkt den Verstand.
Manchmal sind es leicht verständliche und direkt greifbare Momente – wenn ich sehe und erlebe, wie viel Liebe und Ehrlichkeit Freya, Loki und Gandhi verkörpern. Ein Blick in ihre Augen genügt oft. Und ich denke an all ihre Artgenossen, die in diesen Augenblicken sterben.
Aber hier kommt der schöne Gedanke und das Wunder des Erlebens der Schweine zuerst. Dann kommt der Stich ins Herz und der wissende Verstand verknüpft die Liebe, die das Herz aussendet mit dem Horror, der tief in mir vergraben steckt. Gewonnen aus vielen eigenen Erfahrungen und der Aufdeckungsarbeit all jener Menschen, die sich für Schweine und andere Tiere einsetzen.
Die subtileren Momente sind anders. Sie kommen unbemerkt und treffen Dich dadurch umso härter. Mit Anlauf und in einer Wucht, die anhält und einen Artikel zum Thema auslöst. Weil sowohl Herz als auch Verstand überwältigt sind und miteinander auf die Reise gehen.
Ein Schrei, der nicht verhallen darf
Ein Schrei von Freya war diesmal der Auslöser. Das typische, laute und schmerzerfüllte Schreien, das ich schon so oft gehört habe. Jeder Mensch kennt es. Das Schreien von Schweinen ist markant. Im wahrsten Sinne des Wortes. Es geht jedem halbwegs empathischen Menschen durch Mark und Bein. Wir haben diese Schreie selbst in unsere Sprache eingeführt, weil sie so prägnant sind. Wenn wir sagen „Der schreit wie ein Schwein am Spieß“, dann verhöhnen wir das Leid einer gesamten Spezies. Stellen uns über sie, weil wir die Macht haben.
Die Schreie der Schweine, sie werden in der Welt nur selten wirklich gehört. Bewusst wahrgenommen und als das interpretiert, was sie sind: der Ruf des Lebens und des Fühlens. Milliardenfach. So laut und doch so stumm. Weil es niemanden wirklich zu interessieren scheint. Weil es eben nur Schweine sind.
Meine Schuld, mein Erwachen
Der Schrei von Freya, er rüttelte mich wach. Aber erst im zweiten Schritt. Denn ich wußte natürlich, warum sie schrie: sie war dem Stromzaun zu nahe gekommen, mit dem wir das Gehege abtrennen. Und meine Reaktion war wieder typisch: ich gab ihr die Schuld und sagte „Du weißt doch, dass da der Zaun ist.“
Statt ihren Schrei zu hören, wirklich zu hören, habe ich nicht zugehört. Meine eigene Machtposition als überlegende Spezies ausgenutzt um ihr „durch die Blume“ zu sagen, „Sei doch nicht so dumm.“ Was für ein fürchterlicher Schweinepapa ich doch sein kann.
Und so sitze ich hier nun, möchte mich am liebsten bei ihr entschuldigen. Sie drücken und ihr ein Leckerchen geben. In ihre wunderbaren Augen sehen und sagen „Du bist nicht dumm. Ganz im Gegenteil.“ Das werde ich nachher auch tun, aber meine Gedanken müssen raus. Wollen, dass ich lerne und sich erklären. Der Schrei der Schweine, er muß gehört werden. Durch Menschen wie mich, denn den Schweinen hören wir nicht wirklich zu.
Ich bin Täter. Auch ich!
Was mich an meiner eigenen Reaktion im Nachhinein so gewaltig stört ist nicht nur die Arroganz, die ich indirekt meinen Schweinen zeige. Es ist die Tatsache, dass ich durch die Meinung, dass ich ein „guter Schweinepapa“ bin, mir einen Freihfahrtsschein einräume, was meine eigenen Verbrechen gegenüber den eigenen Schweinen anbelangt.
Verbrechen? Welches Verbrechen meinst Du denn? Du liebst doch Deine Schweine, Jörg. Ja, das tue ich. Und deswegen schmerzt es noch tiefer. Brennt noch länger im Herzen, wenn ich durch Umwege verstehe, dass ich auch Täter bin.
Der goldene Käfig
Denn der Schrei von Freya war nicht ihre Dummheit. Nicht Ausdruck der Tatsache, dass sie einen Fehler machte. Sondern schlicht und ergreifend der Schrei der Freiheit. Denn Freya ist eine Gefangene. Schlicht und ergreifend. Eine Gefangene, die ich liebe und der ich am liebsten noch mehr Platz und Liebe schenken würde. Aber die Liebe und der Platz – sie endet am Stromzaun. Immer. Jeden Tag, jede Woche, jedes Jahr.
Frei, dass sind meine Schweine nicht. Selbst wenn in mir der Wunsch lebt, sie einfach mitzunehmen auf unsere Spaziergänge. Denn Spaziergänge mit Schweinen sind verboten. Schweine sind Nutztiere, gehören in den Stall. Oder in den Schlachthof. Und ein Spaziergang mit Schweinen wäre schlicht ein illegaler „Viehtrieb“ nach deutschem Recht.
Aber Freiheit ist genau das, was Freya, Loki und Gandhi fehlt. Die Freiheit zu entscheiden, wo sie leben wollen. Wo sie wühlen wollen. Was sie erleben wollen. Sie leben eingesperrt in einem vergleichsweise goldenen Gefängnis, aber eingesperrt sind sie dennoch. Der Schweinepapa ist ein Gefängniswärter. Ein freundlicher, liebevoller, Gefängniswärter vielleicht, aber das macht die Sache nicht wirklich besser.
Der Schrei als Wendepunkt
Es war nicht der erste Schrei, den ich von Freya, Loki oder Gandhi gehört habe. Sie kommen häufiger in Berührung mit dem Hilfsmittel meiner Machtausübung. Dem Draht der Schmerzen, den der Gefängniswärter als Hilfsmittel benutzt. Und obwohl ich die Schreie kenne und immer wieder zusammen zucke, habe ich ihn heute zum ersten Mal richtig gehört. Und verstanden.
Es war der Schrei nach Freiheit. Der Wunsch von Freya, mir zu folgen und nicht weggesperrt zu sein. Mehr mit mir zu erleben als nur die 5.000m² Gefängnis. Mehr zu teilen als die Zeit, die ich ihnen „großzügig“ einräume. Von nun an höre ich anders. Lebe anders. Denke anders.
Ich will kein Gefängniswärter sein. Ich verabscheue das Einsperren und „Verwahren“ meiner Lieblinge zutiefst. Ich muss in den Spiegel sehen und akzeptieren: auch Du bist ein Verbrecher, Jörg. Auch Du!
Denn artgerecht, das ist nur die Freiheit.
Freiheit, Freiheit – ist die einzige, die fehlt. (Marius Müller-Westernhagen)
Neueste Kommentare